“Das Bloggerleben damals und heute” mit René Walter von nerdcore.de

Für eine Sonderausgabe zu “Das Bloggerleben damals und heute” habe ich die Chance bekommen, mit einigen der legendärsten Blogger aus der goldenen Ära zu sprechen.

Den Anfang macht René Walter, dessen Blog nerdcore.de zu den angesehensten Sites der 2010er Jahre zählte und eine riesige Fangemeinde hatte. Als er 2018 das Bloggen aufgab, bedauerten es unzählige treue Leser. Bis heute wird Nerdcore für seinen unverwechselbaren Stil und die visionären Themen gefeiert.

In diesem exklusiven Interview gibt René spannende Einblicke: Warum er schon 2006 über den Klimawandel schrieb, was es mit seiner Leidenschaft für über 200 Bücher auf sich hat und warum er immer schon keine aktuellen Blogbeiträge aus Deutschland liest. Erfahrt außerdem, was mit seinem reichhaltigen Content passiert ist und was die Nerdcore-Community damals bereits über unsere Zukunft wusste.  Ich danke René herzlich für seine Zeit und die außergewöhnlichen Einblicke – und wünsche ihm für seine weiteren Wege alles Gute!

Was waren die Hauptgründe, warum du das Bloggen aufgegeben hast?

Ein paar Leute aus der Netzszene haben sich ziemlich uncool verhalten, und dann habe ich mich ziemlich uncool verhalten.

Dann habe ich das alles eskaliert und alles wurde noch uncooler.

Da hat der Weiterbetrieb von Nerdcore keinen Sinn mehr ergeben. Also habe ich den Stecker gezogen.

Gab es einen bestimmten Auslöser oder Ereignis, das den Ausschlag gab?

Ja. Mehrere.

Haben Kritik, Anfeindungen oder negativen Kommentare eine Rolle gespielt?

Nein. Das, was passiert ist, war eine völlig andere Liga als das.

War der Arbeitsaufwand für das Bloggen auf Dauer zu hoch für dich?

Nein. Der Arbeitsaufwand für Nerdcore war zwar hoch, 12 Stunden am Tag sicher, alles zusammengenommen, aber das war nicht “zu viel”.

Das beinhaltet sowohl das Monitoring von Feeds, das lesen von ein paar hundert Quellen, das Schreiben und die mediale Aufbereitung (also Photoshops und ähnliches).

Die medientechnische Seite ist ja mein Beruf als Grafiker und Schriftsetzer, das ging immer recht flott, aber Feeds müssen halt gelesen und Videos geschaut werden, das nimmt einem keiner ab, wenn man sein Blog wirklich gut kuratieren will, und das kostet dann halt Zeit.

Aber es war meine Entscheidung vor 15 Jahren, das zu meinem Job zu machen, also hab ich meinen Job gemacht.

Fühltest du dich durch das Bloggen unter Druck gesetzt?

Ja, sicher, aber das ist okay. Ich bin ja in der ersten Boom-Phase des Bloggings hierzulande eingestiegen, das war 2005.

Damals hat man sehr schnell Erfahrung gesammelt, wie es ist, unter der Beobachtung eines omnipräsenten Publikums zu veröffentlichen, und es ist ja auch dieser “Rush”, den man als Schreiber empfindet, wenn man direkt “sieht”, wie die Leute Deinen Kram lesen und direkt Resonanz zeigen (oder halt nicht), der mich darauf gebracht hat, wie sehr psychoaktiv diese ganze Online-Aktivität wirklich ist.

Deshalb habe ich mich sehr früh für Manipulationstechniken im Netz (Clickbait und ähnliches) interessiert und schließlich für die Psychologie der Vernetzung.

Heute nennt man diese Peer-Pressure des Publikums auf den Autoren auch gerne “Audience Capturing”, grade auch im Hinblick auf Gestalten wie Musk, die ihren Followern halt nach dem Maul schreiben und offenbar gar nicht merken, wie sie sich selbst zum memetischen Spielball der Aufmerksamkeitsökonomie machen und sich am Ende in andere Menschen verwandeln.

Das Netz und seine Dynamiken und diese Omnipräsenz des Publikums machen natürlich etwas mit einem, und das muss man sich von Anfang an bewusst machen.

Hattest du das Gefühl, dich zu sehr zu exponieren oder zu wenig Privatsphäre zu haben?

Manchmal ja, meistens nein.

Ich hatte es bis zu den Geschehnissen ab 2018 nie bereut, private Angelegenheiten und Vorfälle zu bloggen. Danach, manchmal ja.

Fehlte dir die Anerkennung oder der finanzielle Erfolg trotz großer Reichweite?

Ja, beides, na klar. Geld ist besser als kein Geld und Anerkennung ist besser als keine Anerkennung.

Hat sich dein Interessensschwerpunkt einfach verlagert?

Nicht wirklich, das verlagert sich ja immer ein bisschen bei jedem.

Aber über AI habe ich auch 2016 schon geschrieben, über die Psychologie des Netzes seit circa 2014 und Klimawandel habe ich zum ersten mal 2006 drüber geschrieben, wobei der Klimawandel durchaus sehr viel präsenter heute bei mir ist als damals.

Vermisst du bestimmte Aspekte des Bloggens heute?

Ich vermisse das Netzwerk aus Leuten von damals.

Was hat dir am meisten Spaß gemacht und was am wenigsten?

Am meisten: Das Netzwerk aus Leuten, denen ich mal vertraut habe, die waren das, was am meisten Spaß gemacht hat.

Am wenigsten: Die anderen, die Vollidioten… obwohl, die waren auch… lustig… auf ihre Art.

Es gibt nicht lustigeres, als Leute, die Kommafehler anmerken und das wirklich ernst meinen, zum Beispiel.

Am allerwenigsten spaßig: Die Erkenntnis, dass das Netz großflächig zur Manipulation eingesetzt werden kann und wird (auch zur Selbstmanipulation).

Das hat den Spaß im Netz für mich merklich getrübt und so ab 2015 habe ich mir wirklich gedacht, dass diese ganzen Netzdynamiken, die auch dafür sorgen, dass der klassische “Rant” immer ein guter Klickbringer ist, nichts gutes in gesellschaftlicher Breite bewirken können.

Gab es auch positive Seiten für dich, die Blogpause einzulegen?

Ich habe über 200 Bücher gelesen, unter anderem den zweiten Teil von E.T., eins der miesesten, schlechtesten Filmbuch-Sequels die ich je gelesen habe.

Sowas liest keiner und sollte auch keiner lesen — ich hab’s getan und bin ein bisschen stolz darauf.

Ich hab die Buddenbrocks und den Zauberberg gelesen, habe mich bezüglich Semiotik, Medien- und Kunsttheorie weitergebildet und hatte, sagen wir mal, eine wilde Zeit und jede Menge wirklich interessanter Leute kennengelernt.

Ein Teil von mir würde diese Zeit nicht missen wollen.

Denkst du manchmal darüber nach, wieder einzusteigen?

Ich schreibe ja einen Newsletter (https://goodinternet.substack.com/), das ist für mich dasselbe wie bloggen.

Bloggen ist für mich als Kulturtechnik plattformunabhängig und es ist egal, ob man nun auf einer selbstgehosteten Website, auf Facebook, in einem Newsletter oder sonstwo postet.

Solange man postet, ist man Blogger(in).

Könntest du dir vorstellen, unter einem Pseudonym weiter zu bloggen?

Ja, nein, vielleicht.

Ich bin ein bisschen abgeneigt gegenüber dem Anonymitätsparadigma im Netz und fand Pseudonyme immer ein bisschen albern, andererseits kann man damit digitale Personas entwerfen die nochmal zugeschnittener und spitzer sind.

Würdest du bei einem Comeback etwas anders machen als früher?

Nein. Bzw. Vielleicht.

Ich hadere (schon immer) zwischen “1 Text alle zwei Tage” und “Flood the zone with interesting great stuff”.

1 ist am ökonomischsten, vor allem für die Anerkennung und Aufmerksamkeit und Seriösität.

2 ist geiler und ich gebe nicht viel auf Seriösität.

Ach ja, und: Don’t drink and post.

Fühlst du dich heute noch mit der Bloggerwelt verbunden?

Ja klar, das war mehr als 15 Jahre mein Job und das legt man nicht mehr ab, wie denn auch.

Verfolgst du noch aktuelle Blogbeiträge in deinem Themenbereich?

Immer, aber selten aus Deutschland.

Das war früher aber auch schon so, hierzulande ist halt immer noch alles (bis auf wenige Ausnahmen) etwas behäbiger und leider perspektivisch auch ein wenig festgerostet.

Es geht immer um dasselbe, egal bei welchem Thema, ob KI, Social Media Psychologie oder Klimawandel, es geht immer um Kapitalismus und Machtstrukturen, andere Talking Points findet man leider viel zu selten.

Ich will nicht behaupten, dass Machtstrukturen und Kapitalismus unwichtig sind, aber es gibt andere relevante Perspektiven, die dann in den Debatten untergehen und damit fehlt dann oft nötiger Kontext im Diskurs.

Nutzt du selbst noch andere Social Media Kanäle?

Ich nutze alle Kanäle, manche aktiver (Microblogging-Services) als andere (Messenger, Chatserver).

Hältst du das klassische Bloggen für überholt heutzutage?

Siehe oben: Bloggen ist für mich als Kulturtechnik plattformunabhängig und klassisches Blogging ist das, was heutzutage praktisch jeder macht, nur halt auf Facebook oder Vlogging auf TikTok oder Fotoblogging auf Insta.

Hier nochmal länger: https://goodinternet.substack.com/p/blogging-never-dies

Würdest du einem Nachwuchsblogger bestimmte Tipps geben?

Kommt darauf an, was man mit der Publishing-Plattform Internet machen will:

Willst Du ein Magazin machen, dann hau raus was geht, viel, schnell, gut und streng kuratiert.

Willst Du Experte auf Deinem Gebiet sein, dann ein Artikel alle paar Tage, mehr nicht.

Privat gibt es sowieso keine Regel, außer vielleicht “Reiß Deine Leute nicht rein” oder so.

Ansonsten gilt immer noch die dumme alte Regel: Viel engagement hilft viel; lese und beantworte und moderiere Kommentare; finde eine idiosynkratische Handschrift; usw usf.

Am Ende gilt: Entweder Du hast eine interessante Website, oder sie ist nicht interessant.

Das ist das einzige das zählt.

Gab es neben den offensichtlichen auch für dich überraschende Gründe aufzuhören?

Nein.

Wie hat sich dein Leben durch die Blogpause verändert?

Ich habe mehr Zeit, kann mehr lesen und treffe mehr Menschen im Meatspace.

Gab es Reaktionen von enttäuschten Lesern auf deine Auszeit?

Kaum.

Hast du deinen alten Content archiviert oder gelöscht?

Das ist alles gelöscht.

Würdest du bei einem Revival an alte Themen anknüpfen?

Ja, sicher:

Algorithmen, Kunst, Tech, Theorie und Psychologie, dazu Klimawandel und ein bisschen Unsinn.

Ich würde den Unsinn wahrscheinlich ein bisschen runterfahren, vielleicht aber auch etwas ganz anderes mit diesen Themen anvisieren.

Vermisst du die Community-Aspekte und Interaktion mit Followern?

Ja, sicher, das hat immer am meisten Spaß gemacht.

Fühlst du dich durch die persönliche Freiheit des Nicht-Bloggens befreit oder eingeengt?

Beides, einerseits wie gesagt:

Viel Zeit zum Lesen. Eingeengt weil das Netzwerk für Feedback auf die eigene Arbeit fehlt.

Gibt es eine Art “Sehnsucht” nach den alten Bloggertagen?

Ich kritisiere Nostalgie als regressiv und reaktionär, bin aber selber auch der größte Nostalgiker und schaue mir massenweise 70s Actionfilme an.

Klar gibt es eine Sehnsucht nach den alten Bloggertagen, wir waren sowas wie eine verschworene Gemeinschaft von etwa tausend Leuten, die wussten, wie die Zukunft aussieht, damals, als Politiker noch nicht wussten, was ein Browser ist.

Und heute hat sich das alles bewahrheitet und wir waren die Pioniere dieser neuen Social Media Welt, sowas kann schon nostalgisch stimmen.

Ich bin dann aber nicht nostalgisch genug, um nicht darüber zu schreiben, wie die “lustigen” Mechanismen von früher (die Rants, das Trolling, die Aufmerksamtkeitsökonomie) heute zu einer Welt geführt haben, die nicht so optimal funktioniert, wie sie vielleicht könnte, und die zum vielleicht ungünstigsten Zeitpunkt (Klimawandel) die Kernfunktion der Massenmedien (Synchronisation von Gesellschaftsteilen) beschädigt haben.

Meine Generation hat die medialen Gatekeeper zerstört, und heute spüren wir das überall.

Würdest du einem Neustart eher aufgeschlossen oder skeptisch gegenüberstehen?

Grundsätzlich aufgeschlossen, aber vielleicht eher im Hinblick auf eine “Adaptierung” von dem, was Nerdcore mal war, in irgendetwas anderes.

Mal schauen was die Zukunft bringt.

Gibt es Blogger, die du bis heute bewunderst oder als Vorbild siehst?

Ich habe immer nur temporäre Vorbilder, niemanden den ich über Jahre oder länger bewundern würde.

Früher mal Cory Doctorow, aber der wurde mir dann zu politisch und ökonomie-obsessed.

Heute wären das eher Leute wie Rob Hornig (https://robhorning.substack.com/), ein ehemaliger Redakteur des großartigen Real Life Mags, der ganz großartig geerdete Theorien über Neue Medien schreibt.

Oder Eryk Salvaggio (https://cyberneticforests.substack.com/), ein Algorithmen-Künstler der ein paar wirklich gute theoretische Betrachtungen dazu aufschreibt.

Vor zwei Jahren habe ich Joscha Bach gerne zugehört (hier etwa: https://www.youtube.com/watch?v=e8qJsk1j2zE), verstehe zwar nur die Hälfte (immerhin), der ist aber auch kein Blogger sondern esoterisch angehauchter AI-Experte, der auch viel über kollektive Intelligenz und Hiveminds redet.

Ich weiß nicht, ob das Vorbilder sind, das sind aber definitiv Leute, die ich heute sehr gerne lese und höre.

Hältst du Bloggen im Jahr 2024 noch für sinnvoll und relevant?

Sinnvoll, keine Ahnung, gibt zwei Perspektiven hierauf:

Bezüglich Kakophonie und Information-Overload ist keine private Publikation im Netz wirklich sinnstiftend und trägt nur zum Lärm bei; andererseits kommen Kakophonie und Info-Overload ja vor allem ins Bild, wenn man das ganze Große betrachtet.

Für lokale Netzwerke aus Menschen kann jedes Blog Sinn ergeben.

Und Relevanz: Ja, sicher, Blogs waren nie irrelevant, ganz am Anfang nicht, als sie ein neues Medienzeitalter ankündigten und auch heute nicht.

Heute allerdings nicht nur im Guten: Blogging ist eins der Werkzeuge der Desinformations-Händler und die ganzen Outrage-Episoden im Netz, auch der Siegeszug der Populisten, wäre ohne Blogging und die Demokratisierung des Publishings (weil das ist Blogging ja im Kern: Desktop Publishing für alle) nicht möglich gewesen.

Die größten Gewinner der Blogrevolution sind das, was wir heute “Alternativmedien” nennen, und die Schattenseiten davon kennen wir jetzt.

Ein Revival der “Vernetzung cooler Leute” — so in etwa kam mir das damals vor –, das wäre mal wieder was.

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